Digitalisierung ist kein Selbstzweck

Wie digital kann die Kreislaufwirtschaft sein? Darüber diskutierten beim RECYCLING talk vier Vertreter*innen der Abfallwirtschaft mit Michael Brunn, Chefredakteur des RECYCLING magazins.
Illustration: RECYCLING magazin

Das Podium war sich einig, dass der Weg zur Abfallwirtschaft 4.0 noch weit ist. Einige Meilensteine hat die Branche jedoch bereits erreicht. Auch Chancen für die weitere Entwicklung wurden identifiziert.

Abfallwirtschaft und Digitalisierung haben eines gemeinsam: Alle wissen, dass es sie gibt – doch jeder Mensch versteht etwas anderes darunter. Um Antworten auf die Frage zu finden, was die Digitalisierung für die Branche bedeutet, ist es deshalb ratsam, mit Expert*innen zu sprechen, die beide Themen kennen. Genau das hat das Team des RECYCLING magazins getan: Unter dem Titel „Wie digital kann die Abfallwirtschaft werden?“ hat Chefredakteur Michael Brunn im Rahmen eines Webinars am 24. Februar 2022 mit vier Gästen über den aktuellen Stand und mögliche Entwicklungen diskutiert:

  • Dr. Holger Berg, Wuppertal Institut
  • Felix Heinricy, Resourcify
  • Ute Müller, Consist ITU Environmental Software
  • Thomas Schachtner, WTR

Als einflussreicher Faktor des gesellschaftlichen Lebens ist Digitalisierung auch aus der Abfallwirtschaft nicht mehr wegzudenken. Die technisch vernetzte digitale Kommunikation führt zur Übertragung allgemeiner Entwicklungen in den Wirtschaftszweig, ermöglicht aber auch branchenspezifische Lösungen. Aber was sind die Auswirkungen, Vorteile, Nachteile und Gefahren dieses Trends?

Der Status quo: Die Kreislaufwirtschaft wird digital(er)

Impulsvorträge des Webinars zeigten Beispiele für Prozesse und Auswirkungen der Digitalisierung auf. Einen allgemeinen Überblick verschaffte den Zuhörer*innen Dr. Holger Berg, stellvertretender Abteilungsleiter Kreislaufwirtschaft beim Wuppertal Institut. Um den aktuellen Stand der Digitalisierung in der Kreislaufwirtschaft zu beschreiben, ging er zuerst auf mehrere Untersuchungen zum Thema ein, die auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene durchgeführt worden sind. Konkret erwähnte Berg eine ISWA-Erhebung aus dem Jahr 2017: In dieser Onlineumfrage wurden 1.087 Teilnehmer*innen aus 97 Ländern gefragt, ob die 4. Industrielle Revolution Einfluss auf die Abfallwirtschaft und das Recycling haben wird. Das eindeutige Ergebnis: Fast alle Befragten antworteten mit „ja“ oder „ja, ein wenig“. Dass der Megatrend Industrie 4.0 keinen oder nur wenig Einfluss auf die Branche haben werde, erwarteten demnach nur 3 Prozent.

Berg betonte, dass mit Blockchain, künstlicher Intelligenz (KI) und weiteren allgemeinen Technologien schon heute verschiedene Formen von Digitalisierung auch in der Kreislaufwirtschaft angewendet werden. Neben solchen allgemeinen Technologien kämen auch branchenspezifische Anwendungen hinzu, etwa die automatische Sortierung mithilfe digitaler Technik, Füllstandmessung bei Mülltonnen oder smarte Routenplanung. Er erwartet, dass künftig weitere Technologien wie (teil-)autonome Fahrzeuge hinzukommen werden. Dabei werde Kommunikation eine besonders große Rolle spielen: etwa in Form digitaler Services wie Chatbots oder Sprachsteuerung. Insgesamt könne die Entwicklung bewirken, dass die Abfallhierarchie verbessert wird.

Die Treiber für die Digitalisierung der Branche sind aus Sicht von Berg klar: Regulierung, Kundenerwartung und Kostendruck. Hinzu kämen indirekte Effekte wie ein dichteres Verkehrsaufkommen und die Möglichkeit neuer Geschäftsmodelle. Barrieren sieht der Abteilungsleiter Kreislaufwirtschaft in Form von Datenschutz und Sicherheitsbedenken, in mangelhaften digitalen Ökosystemen und technischen Hürden durch Medienbrüche, mangelhafte Infrastruktur oder Schwierigkeiten bei der alltäglichen Bedienung durch das Personal der Unternehmen. Berg sieht aber auch Chancen: beispielsweise entsprechende Regularien – wie der Green Deal oder das Circular Economy Action Package – und die allgemein zunehmende Bewegung bei der Digitalisierung im weiteren Sinne.

Aus der Praxis: Eine Plattform für effiziente Verwertung

Nach dem allgemeinen Überblick, den der Referent des Wuppertal Instituts mit seinem Vortrag bot, wurde es im Webinar konkreter: Felix Heinricy stellte Lösungen seines Unternehmens vor, die die Digitalisierung in die Praxis der Abfallwirtschaft überführen. Resourcify bietet Abfallerzeuger*innen eine Software für den Abfallmanagementprozess an, die nicht nur Kosten sparen, sondern auch Wertstoffkreisläufe optimieren kann. Als Vision beschrieb Heinricy die Entwicklung jedes abfallverursachenden Unternehmens vom analogen Abfallmanagement über das Entsorgungsmanagement hin zum digitalen Wertstoffmanagement. Dabei könnten digitale Lösungen wie die Software von Resourcify unterstützen, damit jeder Abfallstrom auf seine Werthaftigkeit hin überprüft wird.

Ein Aspekt, der auch bei Digitalisierungslösungen allgemein zum Tragen kommen kann: Aus Sicht der Anfallstelle kann das digitale Wertstoffmanagement finanzielle Vorteile schaffen, wo analoges Abfallmanagement bislang immer nur Kosten verursacht hat. Dafür agiert Resourcify als digitale Abfall- und Wertstoffmanagement-Plattform, die mit über 400 Entsorgungsunternehmen verbunden ist. So können Nutzer*innen für alle Stoffströme das Angebot finden, das den besten Preis für die sinnvollste Verwertung bietet.

Als Beispiel für die erfolgreiche Anwendung führte Heinricy Hornbach an: Die Baumarktkette hat über Resourcify 190 Anfallstellen mit mehr als 70 Entsorgungsunternehmen in sechs europäischen Ländern vernetzt. 25 Fraktionen werden seitdem auf dem Gelände der Baumärkte gesammelt. Das Ergebnis: Früher habe die Abfallentsorgung für Hornbach Kosten in Höhe von 4 Millionen Euro pro Jahr verursacht, heute bringe das Wertstoffmanagement 1 Million Euro Gewinn pro Jahr.

Auf der anderen Seite: Behörden haben Erfahrungen gesammelt

Dass die Digitalisierung der Abfallwirtschaft nicht erst gestern begonnen hat, zeigte der Vortrag von Ute Müller. Sie ging auf ASYS ein, das Abfallüberwachungssystem der Behörden in allen 16 Bundesländern, das ihr Unternehmen Consist ITU bereits vor etlichen Jahren entwickelt hat, und auf das Elektronische Abfallnachweisverfahren (eANV), das es bereits seit 2009 gibt und das insgesamt über 90.000 Nutzer*innen zählt. „Und meistens hat man den Eindruck, dass es einfach keiner weiß“, bemängelte Müller. Aufgrund der hohen Nutzungszahlen urteilte sie jedoch, die Abfallwirtschaft sei „schon ganz schön digital“.

Müller kritisierte, man hätte das vorhandene Netz auch in anderen Bereichen der Abfallwirtschaft nutzen können, etwa bei der Gewerbeabfallverordnung oder der Ersatzbaustoffverordnung. Sogar beim Verpackungsgesetz hätte man darauf aufsetzen können. Hier konstatierte sie Behördenversagen – man habe sich zu sehr da­rauf verlassen, dass der Markt die Dinge regeln werde.
Auch in weiteren Punkten sei das Pro­blem aufseiten der Behörden zu finden: So sei die Nachweisverordnung etwa zu stark an Papierverfahren orientiert, digitale Prozesse würden nicht gleichbehandelt werden. „Mit über zehn Jahren Erfahrung aus der Anwendung des eANV sollte man analysieren, wie man Gesetze und Verordnungen für eine digitale Welt formuliert“, forderte Müller – auch hinsichtlich der Frage, welche Technologie sinnvoll und machbar wäre. Sie hofft jedoch, dass die Digitalisierung der behördlichen Dienste und Angebote, deren Umsetzung vom Gesetzgeber bis Ende 2022 verlangt wird, der breiteren Nutzung der bereits etablierten Prozesse Vorschub geben wird.

In ihrem Ausblick sagte Ute Müller, die Abfallwirtschaft verwende bereits seit über zehn Jahren ein komplexes, vollständig elektronisches Verfahren. Dabei habe man allerdings einiges Potenzial brachliegen lassen, auf diesem elektronischen Weg hätten sich noch weitere Verordnungen einbinden lassen. Sie forderte, die Erfahrung für die Abläufe sollten weitergehend genutzt werden, und mahnte: „Die Abfallwirtschaft muss aufpassen, in diesem Umfeld frühzeitig ihre eigenen Interessen einzubringen und mitzugestalten.“

Software für Entsorger: Offene Schnittstellen sind essenziell

Mit Berichten aus der Praxis konnte im Webinar auch Thomas Schachtner aufwarten, Gründer des Softwareunternehmens Ways to Recycling (WTR). Basierend auf über 25 Jahren Erfahrung konstatierte Schachtner, die Herausforderungen in der Recyclingwirtschaft seien damals letztlich genauso gewesen wie heute: Die Umgebung in der Abfallwirtschaft sei aufgrund der Umweltbedingungen relativ IT-feindlich geprägt. Zum Personal zählten zudem nur wenige Digital Natives, oft herrsche eine ablehnende Haltung vor. Hinzu kämen Sprachbarrieren und ein Mangel an offenen ERP-Systemen – diese „absolut abgeschlossen“ Systeme bergen aus Schachtners Sicht die Gefahr von Insellösungen.

Ein möglicher Ausweg: die Auswahl darauf angepasster, robuster Hardware, die klare Definition von Verantwortlichkeiten beim Personal, das Zulassen von Selbstkorrekturen, die Auswertung und Visualisierung der gesammelten Daten direkt mit dem Schichtprotokoll und automatische Berichte an die Unternehmensleitung. Darüber hinaus sei die Datenhoheit sicherzustellen und auf eine Anbindung per Schnittstellen ans ERP zu achten – damit die gesammelten Daten letztlich auch ge­­nutzt werden können.

Die Kund*innen von WTR erkennen laut Schachtner inzwischen, dass die Verfügbarkeit von Daten viele Vorteile biete. Aus der Erfahrung mit der eigenen Software Wasteline weiß er, welche aktuellen Anforderungen darüber hinaus Nutzer*innen dafür haben:

  • Mobile Lösungen
  • Zentralisierung der Datenhaltung
    über alle Standorte
  • Unterstützung von Cloud-Lösungen
  • Aufbau von Data-Warehouses

Darüber stehe der Wunsch, als Unternehmen vernetzte Kunden-Lieferanten-Beziehungen eingehen zu können. In der Folge könnten Daten nicht nur für diejenigen Nutzen bieten, die sie sammeln, sondern auch für weitere Akteur*innen entlang der Wertschöpfungskette. Letztliches Ziel sei deshalb ein Digitalpass für Waren, der diese aufwertet. Künftig, so Schachtners Ausblick, könnten Recyclingunternehmen nicht mehr nur Ware liefern, sondern diese auch mit nutzbringenden Daten anreichern, etwa Qualitätsanalysen in einer einfach lesbaren Form wie QR-Codes.

Im Diskurs: Hat Abfall dasPotenzial zur Digitalisierung?

Wie realistisch ist der digitale Zwilling für Abfälle? Michael Brunn fragte die Referent*innen, ob sich die physische und die digitale Seite der Abfallwirtschaft langfristig integrieren ließen. Felix Heinricy von Resourcify äußerte dazu, dass bereits heute Technologien existierten, um die Medienbrüche zu schließen – etwa mittels Sensorik und Datenerfassung. Er gestand allerdings ein, dass viele Daten aktuell noch manuell eingegeben werden und deshalb noch Potenzial zur Optimierung bestehe. Holger Berg vom Wuppertal Institut vertrat jedoch den Standpunkt, Abfall könne schon innerhalb der nächsten Jahre digitaler werden, etwa in Form digitaler Wasserzeichen. Als mögliche Anreize dazu nannte er ökonomische Vorteile und Regularien.

Besonders einig waren sich die Sprecher*innen des Webinars, dass einheitliche Schnittstellen und Strukturen helfen können, die Branche als Ganzes bei der Einführung digitaler Lösungen zu unterstützen. Dabei kam die Runde auch auf Plattformökonomie zu sprechen. „Für wen das Vor- oder Nachteil ist, ist sicherlich Ansichtssache“, gab Ute Müller von Consist ITU zu Bedenken. Ihr Einwand: „Schöpft eine Plattform nur Gewinne ab, ohne die Kreislaufwirtschaft zu unterstützen, würde ich es immer ablehnen.“ Trage eine Plattform zur Vernetzung der Beteiligten bei, sei sie aber unterstützenswert – gerade im Sinne kleinerer Entsorgungsunternehmen, die sich schwertäten, all ihre Dienstleistungen digital anzubieten. Besonders für sie seien offene Plattformen sinnvoll.

Über den Tellerrand blickend, lenkten die Teilnehmer*innen des Webinars den Blick auch auf die Frage, wie relevant die in der Recyclingwirtschaft gesammelten Daten für Akteur*innen außerhalb der Branche sein könnten. Thomas Schachtner von WTR vertrat mit Bezug darauf die Auffassung, dass Informationen wie der CO2-Footprint eines Unternehmens oder eines Produkts relativ einfach zu berechnen seien, wenn die nötigen Daten vorliegen. Ute Müller verwies in diesem Punkt allerdings auf die Notwendigkeit, dass für belastbare Auswertungen alle Unternehmen aus der Wertschöpfungskette umfassend Rückmeldungen geben müssten. Felix Heinricy unterstrich, dass gerade solche Informationen jenseits der Branche sehr gefragt seien – der Wunsch nach Transparenz und Wissen über die Verwertungswege sei extrem groß geworden.

Der Blick von außen: Bringt externer Erwartungsdruck den Durchbruch?

Ist es langfristig vielleicht dieser Erwartungsdruck, der der Digitalisierung der Abfallwirtschaft zum Durchbruch verhilft? Schachtner bestätigte diesen Eindruck mit dem Verweis auf „weiche“ Aspekte, die B2C-Unternehmen wie Einzelhändler dazu brächten, ins PET-Recycling einzusteigen oder den CO2-Footprint von Produkten anzupreisen – schließlich ließen sich Produkte mit diesen Zusatzinformationen besser verkaufen. Berg ergänzte, auch der Fachkräftemangel trage seinen Teil zur Entwicklung bei: Er lasse sich durch digitale Technologien ausgleichen.

„Wir wollen mehr wissen als bisher“, lautete das Fazit von Michael Brunn, dem das Podium zustimmte. Schachtner: „Man wird erkennen, dass man aus Daten sehr viel Nutzen ziehen kann.“ Ute Müller plädierte in diesem Kontext dafür, Daten transparenter und offener zu teilen, und kritisierte die „typisch deutsche Haltung“, keine Informationen aus der Organisation herausgeben zu wollen. Nötig sei es nämlich, dass Daten nicht nur gesammelt, sondern auch verarbeitet und geteilt werden – sonst habe schließlich niemand etwas davon, so Müllers abschließendes Statement.
Die Digitalisierung wird sich auch in der Abfallwirtschaft durchsetzen, darin waren sich alle Sprecher*innen des Webinars einig – damit sie mehr als ein Selbstzweck wird, müssen die Akteur*innen allerdings auch umdenken.

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