Zwar hat die Papierindustrie zwischenzeitlich zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Nachhaltigkeit ihrer Produktion ergriffen und den Anteil von Recyclingmaterial in ihren Produkten erhöht, dennoch bleibt viel Luft nach oben. Tatsächlich wird ein geringerer Anteil des ursprünglich produzierten Papiers zu Recyclingzwecken zurückgewonnen, als man erwarten würde. Und das trotz der weit verbreiteten Praxis der Mülltrennung. In Deutschland beispielsweise gelangen ganze 20 % des produzierten Papiers nicht in den Wertstoffkreislauf zurück – und ein Teil dieses Papiers wird in gemischten Abfallsammlungen entsorgt.
„Verordnungen, die einen Mindestgehalt an Recyclingmaterial in neuen Papierprodukten vorschreiben, machen es erforderlich, dass wesentlich mehr Altpapier recycelt werden kann. Sogar dann, wenn wir alles Papier recyceln würden, das im Rahmen des jetzigen Mülltrennungsprozesses gesammelt wird, hätten wir nicht genug Material, um diese Vorgaben zu erfüllen“, erklärt Annika Ludes, Product Engineer bei Stadler. Ein Forschungsprojekt mit dem Namen EnEWA sucht nach einer Lösung, wie diese Lücke im Kreislauf geschlossen werden kann. Ziel ist es, durch die Rückgewinnung recycelbarer Papierfasern aus Leichtverpackungen, Rest- und Gewerbeabfall ein bisher ungenutztes Potenzial zu erschließen. Während sich die Projektanalyse auf Papierfraktionen aus gemischten Abfallströmen stützt, die in Deutschland gesammelt werden, wird die im Rahmen des Projekts entwickelte Lösung auf die jeweilige Situation in anderen Ländern anpassbar sein. Das Projekt startete im Dezember 2021 und soll bis November 2024 abgeschlossen werden.
„Die Mitwirkung beim EnEWA-Projekt ist für uns bei Stadler sehr wichtig. Forschungsprojekte wie dieses helfen uns bei unserer Suche nach Möglichkeiten, die Recyclingindustrie auf dem Weg in Richtung Kreislaufwirtschaft zu unterstützen“, fährt Ludes fort. „Wir wollen den Wandel vorantreiben, diese Anlagen bauen, um die Sekundärfaser-Quellen für die Papierindustrie auszubauen. Gleichzeitig wollen wir mit Verpackungsherstellern zusammenarbeiten und Verpackungen entwickeln, die besser für Recycling geeignet sind.“
Rückgewinnung von Papierfasern aus gemischten Abfallströmen
Die Partner des EnEWA-Projekts – Universität Siegen, RWTH Aachen, Leipa Group, Propakma, Tomra und Stadler– arbeiten an der Entwicklung einer Lösung für die Rückgewinnung und das Recycling von Papierfasern aus Leichtverpackungen, Rest- und Gewerbeabfall. Sie haben dabei klare Ziele definiert: Erhöhung der Recyclingraten bei der Papiererzeugung und Verringerung des Primärenergiebedarfs und der CO₂-Emissionen. Angestrebt wird eine Rückgewinnungsrate von insgesamt 90 % – inklusive Altpapier aus der getrennten Altpapiersammlung und speziellen Sammelsystemen, die zurzeit eine Rückgewinnungsrate von 78 % erzielen, sowie aus Restabfällen, Gewerbeabfällen und Leichtverpackungen, also aus Abfallströmen, aus denen derzeit nur ein geringer Papieranteil zurückgewonnen wird.
Das Projekt untersucht außerdem, wie die Voraussetzungen dafür geschaffen werden können, dass ein Maximum an Papier in den Recyclingkreislauf zurückgeführt wird. Hierzu zählen unter anderem Gespräche mit den zuständigen Behörden in Deutschland und der EU und die Abgabe von Empfehlungen für die Aktualisierung der für die Abfallwirtschaft geltenden Richtlinien zwecks Verbesserung der in den Sortierprozess einfließenden Abfallströme, ebenso wie Kommunikationskampagnen zur Aufklärung der Verbraucher über die korrekte Trennung der Haushaltsabfälle und die Zusammenarbeit mit Herstellern, um besser recycelbare Verpackungen zu entwickeln.
Stadlers Aufgabe bei diesem Projekt besteht darin, in Zusammenarbeit mit Tomra Recycling technische Lösungen zu entwickeln, mit deren Hilfe Papier aus den gemischten Abfallströmen zurückgewonnen und nach verschiedenen Papierqualitäten für das Recycling sortiert wird. Alena Spies, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Anthropogene Stoffkreisläufe an der RWTH Aachen, sagt hierzu: „Stadlerbringt seine enormen Erfahrungen in der Abfallaufbereitungstechnologie und im Anlagenbau in das Projekt ein. Beides ist von immenser Bedeutung für die ganzheitliche Betrachtung der Stoffkreisläufe und die Entwicklung von Recyclingprozessen im industriellen Maßstab mit dem Ziel einer Kreislaufwirtschaft. Stadlers wichtigster Beitrag war für uns die gemeinsame Planung und Durchführung von Sortierversuchen im industriellen Maßstab im firmeneigenen Test- und Innovationszentrum.“
Versuche unter realen Einsatzbedingungen im Stadler-Testzentrum
Im März führte Stadler in seinem Testzentrum in Slowenien umfangreiche Versuche unter realen Einsatzbedingungen durch, um bei der Sortierung von Papierfasern aus Leichtverpackungen, Rest- und Gewerbeabfall auftretende Probleme zu ermitteln und entsprechende Lösungen anbieten zu können. Als erster Schritt des Sortierprozesses durchläuft der ankommende Abfallstrom einen Stadler ST2000 Ballistikseparator, auf den die optische Sortierung mit einem Autosort von Tomra Recycling folgt.
Der Sortierprozess wurde anhand von Proben aus Abfallsammlungen in verschiedenen Regionen Deutschlands und unter unterschiedlichen Bedingungen getestet, die den Sortierprozess beeinflussen können, etwa nasse oder schmutzige Materialien. „Dies ist wichtig, denn die Verfahren der Abfallsammlung sind nicht nur von Land zu Land unterschiedlich, sondern auch innerhalb eines Landes je nach Region oder sogar je nach Jahreszeit. Zudem ist das Material aus diesen Abfallströmen häufig schmutzig und es kann nass sein. Dementsprechend muss unsere Lösung mit diesen unterschiedlichen Faktoren flexibel umgehen können“, sagt Ludes.
Während der Tests wurden gewaltige Mengen an Daten gesammelt, deren Analyse sich noch im Anfangsstadium befindet. Das Team der RWTH Aachen untersucht die Ergebnisse der manuellen und sensorgestützten Analyse der Abfallströme, um ein genaues Bild davon zu erhalten, wie der Ballistikseparator dieses Material verarbeitet. Analysiert wird die Trennung der drei wichtigsten Ströme: reines Papier, Aussortierung von Papier aus Kunststoffabfällen und Aussortierung von Kunststoff aus Papierabfällen.
Im Hinblick auf den Sortierprozess hat die Analyse bisher ergeben, dass jede Papierfraktion aus den verschiedenen Abfallströmen ihre eigenen Merkmale aufweist und dass der Stadler STT2000 aufgrund seiner Modularität und seiner vielfältigen Einstellungsmöglichkeiten effizient für die Sortierung unsortierten Altpapiers verwendet werden kann.
Proben, die zu einem früheren Zeitpunkt des Projekts zur Analyse der Materialzusammensetzung und des Papieranteils in den verschiedenen Abfallströmen entnommen wurden, ergaben, dass rund 50 % des im Leichtverpackungsstrom enthaltenen Papiers über die separate Altpapiersammlung hätten entsorgt werden können. Diese Erkenntnis machte deutlich, dass die Verfahren der Abfallsammlung verbessert werden müssen, um eine effektivere Trennung der Abfallströme zu gewährleisten und dementsprechend eine höhere Papierwiederverwertungsrate zu erzielen.
Das Projekt beschäftigt sich jedoch nicht nur mit dem reinen Sortierprozess, wie Spies erläutert: „Untersucht wurden verschiedene Möglichkeiten zur Auflösung und Aufbereitung, ein Hygienisierungsverfahren zur Beseitigung biologischer Verunreinigungen und die Abscheidung gefährlicher Substanzen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Verwertung der beim Papierrecycling anfallenden Reststoffe (Rejekte). Im vergangenen Jahr wurde ein vollständiger Recyclingprozess von der Trennung von Papier und Pappe aus Leichtverpackungsabfällen bis zur Herstellung neuer Pappe durchgeführt, inklusive diverser Sortier- und Verarbeitungsschritte. Begleitend werden kontinuierlich ökonomische und ökologische Aspekte bewertet und die gewonnenen Erkenntnisse an die Papierindustrie weitergegeben. Wir hoffen, den im Rahmen unseres Projekts entwickelten Recyclingprozess in der Papierindustrie etablieren zu können und so zu erreichen, dass auch Papier und Pappe aus Leichtverpackungen, Rest- und Gewerbeabfall recycelt werden.“
Die Papierindustrie konnte durch Optimierung ihrer Produktionsstätten und Verringerung des Energieverbrauchs bei der Altpapieraufbereitung ihre CO₂-Bilanz bereits verbessern. Ersten Berechnungen zufolge bietet der vom EnEWA-Projekt entwickelte Prozess mit der Rückführung des Papiers aus Rest- und Gewerbeabfällen sowie Leichtverpackungen in den Recyclingkreislauf ein Einsparpotenzial von rund 270.000 Tonnen CO₂ pro Jahr.