Defossilisieren statt dekarbonisieren

Kunststoffe lassen sich auch in Zukunft problemlos nutzen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen – diese Kernaussage steckt im Diskussionspapier „Kreislaufwirtschaft Plus“, das Plastics Europe im Oktober 2022 veröffentlicht hat.
Foto Puzzleteil nach Willi Heidelbach; pixabay.com

Konkret heißt das: mehr mechanisches und chemisches Recycling, Nutzung von CO2 als Rohstoff, Etablierung einer Wasserstoffwirtschaft, massiver Ausbau der Erneuerbaren Energien. Um langfristig auf fossile Rohstoffe zu verzichten, ist also viel zu tun.

Den Erfolg von Kunststoffrecy­cling kann auf mindestens drei Arten gemessen werden: an den Mengen, die ins Recycling gehen, an den Mengen, die aus dem Recycling kommen – und am Anteil von recycelten Kunststoffen in neuen Produkten. Plastics Europe als Vereinigung der Kunststoffhersteller geht verständlicherweise den letzteren Weg. Und kommt dabei aktuell zu einem positiven Zwischenfazit: Der neue Bericht „Plastics – The Facts 2022“ gibt an, der Einsatz recycelter Kunststoffe in neuen Produkten sei im zurückliegenden Jahr um 20 Prozent gegenüber 2020 gestiegen. Die absolut gemessene Zahl – 10 Prozent Rezyklatanteil in neuen Produkten – wirkt hingegen eher ernüchternd und spiegelt weder die Wünsche der Politik, die Erwartungen der Verbraucher*innen noch die ambitionierten Zielvorgaben der Kunststoffindustrie selbst wider.

Ideologisch geht es für diese bei der Steigerung der Rezyklatanteile langfristig ums Überleben, denn auf die Nutzung von Rohöl wird sich die Branche nicht ewig verlassen können. So spricht Virginia Janssens, Managing Director des Verbands, auch davon, die Industrie müsse sich „zukunftsfähig machen“. Nach wie vor keine leichte Aufgabe für eine Branche, die historisch betrachtet so sehr wie wenige andere auf fossile Rohstoffe angewiesen ist.

Eine Branche macht sich bereit für die Zukunft

Dass das anders werden soll, proklamiert der Verband nun mit einer neuen Veröffentlichung: „Die Kunststofferzeuger sind fest entschlossen, die Transformation zur Kreislaufwirtschaft trotz aktueller Herausforderungen voranzutreiben“, lässt Plastics Europe­ jüngst verlauten. Wie diese Transformation gelingen soll, beschreibt der Verband mit Handlungsempfehlungen für die Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie (NKRWS).

Das Papier sieht Plastics Europe als „Diskussionsbeitrag“. Es ist, so der Verband, das Ergebnis intensiver Beratungen einer Expertengruppe, bei der Plastics Europe nur moderiert habe. Inhalte und Positionen beigetragen haben Vertreter der ETH Zürich, der Uni Stuttgart, des Nova-Instituts, der RWTH Aachen, der Uni Linz, des KIT und des Wuppertal Instituts. Moderiert haben mehrere Vertreter von Plastics Europe Deutschland.

Im Mittelpunkt des Eckpunktepapiers steht ein „Plus“. Anders als bei Streaming­anbietern und Tageszeitungen drückt dieses bei der „Kreislaufwirtschaft Plus“ von Plastics Europe jedoch keine Bezahlpflicht aus. Der Zusatz geht laut Dr. Alexander Kronimus, Leiter des Geschäftsbereichs Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft bei Plastics Europe Deutschland, vielmehr auf die Notwendigkeit zurück, Kreislaufwirtschaft ganzheitlich zu denken: „Entscheidende Fortschritte, etwa beim mechanischen und chemischen Recycling, sind das eine“, so Kronimus. „Wollen wir den Kreis aber vollständig schließen und wirklich nachhaltig wirtschaften, gilt es, darüber hinaus zu denken: Eine nicht-fossile Rohstoffbasis, etwa mithilfe der Nutzung von CO2 mit Wasserstoff sowie nachhaltig zertifizierter Biomasse ist ebenso notwendig wie eine kreislaufgängige Produktgestaltung.“ Diesen Zusatz wolle man mit dem Begriff „Kreislaufwirtschaft Plus“ zum Ausdruck bringen.

Kunststoffe vom Öl entkoppeln für Wachstum ohne Klimaschäden

Kerngedanke ist also, dass dem Kreis laufend etwas hinzugefügt werden muss, denn die sich im Markt befindlichen Mengen reichen nicht aus, um die weiterhin steigende Nachfrage nach Kunststoffen in jeglicher Form zu decken. Ist auch in Zukunft beständiges Wachstum durch Zufuhr von neuen Materialien bei gleichzeitigem Verzicht auf jegliche fossile Rohstoffe möglich? Ja, sagt Plastics Europe, und spricht sich somit für eine Entkopplung im doppelten Sinn aus: Kunststoffe ohne Rohöl und Wachstum ohne Schäden fürs Klima.

Damit das möglich wird, nennen die Handlungsempfehlungen sechs wesentliche Voraussetzungen:

  1. Recycling möglichst aller Kunststoff­abfälle, Design for Recycling
  2. Abfallvermeidung, Wiederverwendung, Verbrennung nur noch mit Carbon Capture and Utilization (CCU)
  3. Etablierung eines Technologiemix aus mechanischem und chemischem Recycling, Nutzung von Biomasse für bio­basierte Kunststoffe
  4. Schließung des Kohlenstoffkreislaufs durch Nutzung von CO2 mit Wasserstoff und nachhaltige Nutzung von Biomasse
  5. Investitionsfreundliche Rahmenbedingungen, Leuchtturmprojekte, Vernetzung und Koordinierung
  6. Ausbau der Erneuerbaren Energien und einer Wasserstoffwirtschaft
Klimaneutralität durch Kreislaufwirtschaft durch Recycling

Ausgangspunkt des Diskussionsbeitrags ist die Position, dass die Kreislaufwirtschaft eine notwendige Voraussetzung für Klimaneutralität ist – einerseits. Andererseits macht das Papier auch die klare Ansage, dass es ohne Kunststoffe auch in Zukunft nicht gehen wird. Als Interessenverband hebt Plastics Europe hier besonders die Leistungen hervor, die Kunststoffe etwa für die Gebäudedämmung, für Photovoltaik und Windkraft, für Leichtbau und Lebensmittelschutz erbringen.

Um den Widerspruch aus der Notwendigkeit, fossile Rohstoffe zu verwenden, und dem Bedarf an Kohlenstoff als Rohstoffgrundlage aufzulösen, spricht sich das Papier vor diesem Hintergrund gegen Dekarbonisierung und für Defossilisierung aus: Statt auf die Nutzung von Kohlenstoff zu verzichten und CO2 möglichst vollständig zu vermeiden, sollen Kohlenstoff und CO2 mitsamt den Kunststoffen klimaneutral im Kreis geführt werden.

Gefragt ist innovative Verfahrenstechnik

Um diese gewaltige Aufgabe langfristig erfolgreich zu bewältigen, sind freilich zahlreiche Voraussetzungen zu erfüllen. Damit trotz des erwünschten Verzichts auf fossile Rohstoffe die nötigen Mengen zusammenkommen, soll die Kunststoffindustrie der Zukunft sämtliche Quellen nutzen, die klimaverträglich möglich sind: mechanisches wie chemisches Recycling, Biomasse und CCU.

Letzteres bezieht sich dabei auf eine Kombination von Verfahren, die technisch möglich, bislang aber noch nicht ausgereift sind: CO2 aus Produktionsprozessen wird abgeschieden, grüner Wasserstoff per Elektrolyse produziert und beides durch Synthese zu Kohlenwasserstoffen verarbeitet, die zu Ethylen und Propylen raffiniert als Sekundärrohstoffe für die Kunststoffproduktion dienen, die der Qualität von Primärrohstoffen exakt entsprechen.

Schon beim mechanischen Recycling bleibt noch viel zu tun, und einzelne Verfahren des chemischen Recyclings kommen gerade erst aus den Startlöchern (siehe Beitrag auf S. 30). Die mögliche Nutzung von Biomasse muss sich immer wieder gegen den Vorwurf verteidigen, in Konkurrenz zum Anbau von Nahrungsmitteln zu treten. Und bis Kohlendioxid zum Rohstoff für eine ganze Industrie wird, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Das Positionspapier versteht diese Herausforderungen jedoch nicht als Grund zu verzagen, sondern im Gegenteil als Argument, bei sämtlichen Bereichen einen Zahn zuzulegen.

Hinter der Forderung nach CCU steht offenbar maßgeblich der Versuch, einen Sinneswandel zu erwirken: Gerade in Deutschland ist die Idee der Nutzung oder gar Speicherung von Kohlendioxid bislang eher verpönt und wird von weiten Teilen von Politik und Gesellschaft eher abgelehnt. Um die technische Machbarkeit muss sich hingegen die Industrie kümmern.

Ähnlich sieht die Lage beim chemischen Recycling aus: Manche Anlage trotzt heute selbst Kritikern Anerkennung ab, die Machbarkeit scheint eher gegeben als in den 1980er-Jahren, als chemisches Recycling schon einmal für kurze Zeit zum Heilsbringer der chemischen Industrie erklärt wurde. Die Anerkennung durch Politik und Bevölkerung könnte aber noch größer werden.

Beim mechanischen Recycling rennt Plastics Europe hingegen offene Türen ein: Nicht viel anders als die Forderungen von Umweltschutzverbänden lesen sich die Abschnitte im Positionspapier, die Steigerungen der Recyclingraten, bessere Rahmenbedingungen und ambitioniertere Zielvorgaben fordern.

Eine Roadmap für die Zukunft der Kunststoffindustrie

Um trotz der Widrigkeiten das Ziel zu er­­reichen – eine Kunststoffindustrie, die weiterhin prosperiert und gleichzeitig auf fossile Rohstoffe verzichten kann –, ergibt sich aus dem Positionspapier von Plastics Europe­ eine Roadmap. Zahlreiche Wegmarken gilt es, zu erreichen:

  • Optimierung des mechanischen Recyclings
  • Etablierung des chemischen Recy­clings
  • Umfassende Anwendung von Design for Recycling
  • Abfallreduzierung und -vermeidung
  • Stärkung der Wiederverwendung von Produkten
  • Etablierung von Design for Recycling bei langlebigen Kunststoffprodukten
  • Nutzung von Biomasse als Rohstoff für biobasierte Kunststoffe
  • Etablierung von Verfahren zur Nutzung von CO2 als Rohstoff
  • Schaffung einer grünen Wasserstoffwirtschaft
  • Massiver Ausbau der Erneuerbaren Energien
  • Etablierung von Lebenszyklusanalysen (LCA) und absoluten Umweltverträglichkeitsprüfungen (AESA) für Produkte
  • Vereinfachung von Genehmigungs­verfahren für neue Anlagen und
    Prozesse
  • Schaffung eines Digitalen Produktpasses, Watermarks
  • Erweiterte Herstellerverantwortung, Schaffung von Anreizen für Recycling
  • Ausweitung von Pfand- und Rücknahmesystemen
  • Vermeidung von Carbon Leakage
Dicke Bretter und große Ansprüche

Ginge es nicht um so viel, könnte man den Weg zu den im Papier geforderten Veränderungsprozessen schlicht als spannend bezeichnen. Schließlich bergen Ideen wie die Nutzung von Kohlendioxid als Rohstoff, die vollständige Versorgung durch Erneuerbare Energien oder die Schaffung einer Wasserstoffwirtschaft das Potenzial der Veränderung einer ganzen Gesellschaft. Angesichts der Gefahren, die drohen, wenn es nicht gelingen sollte, die Transformation der Wertschöpfungsketten von Kunststoffen zu vollziehen, verbietet sich jedoch passives Zusehen.

Denn die Diskussionsgrundlage der Industrievertreter enthält nicht nur Absichtserklärungen, sondern auch Forderungen an Politik und Gesellschaft. Man kann es wohlfeil nennen, letztere dazu anzuhalten, Kunststoffe verantwortungsvoller zu nutzen – die Forderung wird aber nicht dadurch falsch, dass sie von den Herstellern ausgesprochen wird. Und dass politische und gesetzliche Rahmenbedingungen die Kreislaufwirtschaft oft eher behindern als beflügeln, ist eine Tatsache, die schon manche Branchenangehörige mit guten Absichten in die Verzweiflung getrieben haben.
Dass das Positionspapier auch zielführende Lenkungsinstrumente wie eine erweiterte Herstellerverantwortung oder innovative Pfand- und Rücknahmesysteme fordert, ist deshalb zu begrüßen. Auch das Bekenntnis zur objektiven, fallweisen Bewertung der Vor- und Nachteile von chemischem Recycling gegenüber mechanischen Verwertungsmöglichkeiten sollte Branchenkenner freuen.

Im Modell „Kreislaufwirtschaft Plus“, wie es Plastics Europe darstellt, sieht der Verband das Potenzial, fünf „drängende Herausforderungen unserer Zeit“ zu adressieren: Klimaschutz, nachhaltige Entwicklung, Verzicht auf fossile Ressourcen und Verringerung der Importabhängigkeit, mehr Umweltschutz und gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit. Die chemische Industrie, zu der auch die Kunststoffhersteller gehören, hat es in der Vergangenheit geschafft, Umweltauswirkungen wie Treibhausgasemissionen und Energieverbräuche bei steigender Produktivität kontinuierlich zu reduzieren. Auch wenn die Verlautbarung von Plastics Europe,­ die Schlüsseltechnologien, die benötigt werden, um den Kohlenstoffkreislauf vollständig zu schließen, seien bereits vorhanden, zunächst etwas optimistisch klingen mag – vielleicht ist angesichts der durch das Positionspapier postulierten Ziele auch eine Portion Optimismus angebracht.

Gesetzte Ziele und Hoffen auf Erfolg

Denn was wäre die Alternative? Auch wenn der Verband Lobbyismus für die Kunststoffproduzenten betreibt – dass Produkte aus Plastik nicht einfach abgeschafft werden können, ist eine Tatsache. Dass die Interessenvertreter sich intensiv darüber Gedanken machen, wie eine Nutzung von Kunststoffen aussehen kann, die sich im Einklang mit Umwelt, Klima und Mensch befindet, ist eine willkommene Bewegung.

Dass die Expertengruppe dabei Forderungen ausspricht, die nicht einfach umzusetzen sind, ist kein Grund zur Kapitulation. Denn anders als Regierungen bleiben Unternehmen länger in der Verantwortung als vier Jahre. Die Ziele der Kunststoffhersteller sind gesetzt – jetzt sollte man sie an der Erreichung messen.

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